Eine Rettung wie ein Tango: Erfahrungen aus dem Rettungswesen im Motorsport

29 May 2020

Extrication Tango: Learning from Motorsports Rescue

Also ich vor etwa 15 Jahren bei der Feuerwehr angefangen habe, hatten die Autos auf der Straße noch eine ganz andere Qualität als heute. Die Rettungsmethoden waren noch nicht so weit entwickelt, und die verwendeten Geräte waren langsamer und schwerer. Damals wurde mir als Rettungsansatz noch beigebracht, dass ich mir ‚Zeit lassen‘ soll: Der eingeklemmte Patient ist wie Glas, und man will dem Patienten definitiv nicht wehtun oder ihm Schaden zufügen. Inzwischen haben wir glücklicherweise weiter entwickelte Rettungsgeräte (die schneller und einfacher zu bedienen sind), und auch bei der Taktik steht der zeitliche Aspekt bei den Rettungstechniken eher im Vordergrund, um die Chancen des Patienten auf Heilung zu verbessern.

Während ich diese Zeilen schreibe, ist mir allerdings sehr wohl bewusst, dass viele Leute ihre Patienten immer noch wie Glas behandeln: sehr, sehr vorsichtig. Das wäre in vielen Fällen auch mein Ansatz, aber was ist, wenn es sich bei der Person, die in einem Fahrzeug eingeklemmt ist, um einen zeitkritischen Patienten handelt? Wie ist Ihre Feuerwehr auf so einen Fall vorbereitet und geschult? Wie kommunizieren Sie bei Vorfällen mit Ihrer eigenen Mannschaft und mit anderen Mannschaften (wenn mehrere Rettungsmannschaften vor Ort sind)? Welche Entscheidungen treffen Sie, um den Rettungsvorgang zu beschleunigen?

Rettung im Motorsport

Ich hatte das Glück und konnte von den Medical/Safety Teams der FIA und dem Safety Team von AMR INDYCAR lernen. Was ich bei beiden Organisationen beobachtet habe, ist die Tatsache, dass die Rettung und/oder Befreiung* eines im Fahrzeug eingeklemmten Patienten oftmals zeitkritisch ist. Natürlich steht der Gesundheitszustand des Patienten absolut an erster Stelle, aber die Frage, ob ein Rennen unterbrochen oder mit langsamer Geschwindigkeit fortgesetzt wird, ist eine ebenso wichtige Überlegung. Das Rettungsteam will schnell vorgehen, um die Strecke freizuräumen und das Rennen fortzusetzen. 

* Rettung oder Befreiung

Im Rettungswesen für den Motorsport wird das Herausheben eines Fahrers aus seinem Wagen als Rettung und Befreiung bezeichnet. Bei Feuerwehren und Rettungsdiensten wird die Bezeichnung technische Rettung fast immer für den Einsatz (hydraulischer) Rettungsgeräte verwendet, was im Motorsport in den meisten Fällen nicht der Fall ist. Deshalb sprechen wir in diesem Blog von Befreiung, wenn der Fahrer aus einem Fahrzeug gehoben wird, und von Rettung, wenn Rettungsgeräte zum Einsatz kommen.

Als ich ein ganzes Wochenende mit dem Safety Team von AMR INDYCAR an der Pocono-Rennstrecke mitgefahren bin, haben wir verschiedene Szenarien besprochen und mehrere Stunden geübt, wie man an einen Einsatz herangeht. Wie läuft die Kommunikation ab? In welchem gesundheitlichen Zustand befindet sich der Fahrer? Brauchen wir eine manuelle Befreiung oder kann der Fahrer sich selbst befreien? Dieses Verfahren wird immer von einem Mediziner geleitet, dessen Aufgabe es ist, den Fahrer zu triagieren und die Methode zur Befreiung festzulegen. 

Wenn die Entscheidung für eine manuelle Befreiung fällt, haben alle Mitglieder im Team ihre Aufgaben. Sie arbeiten einerseits, so schnell sie können, und behandeln ihren Patienten andererseits wie Glas. Die für die Sicherheit an der Rennstrecke verantwortlichen Teams sind gut ausgebildet und verfügen über die nötige Zulassung für ihre Aufgaben. 

Manual extraction

Als ich das erste Mal einem Team bei der Durchführung einer manuellen Befreiung zugeschaut habe, hat es sich ein bisschen so angefühlt, als ob sechs Personen einen komplizierten Tango tanzen. Alle Team-Mitglieder hatten ihre Positionen rund um das Fahrzeug, jeder hatte eine spezifische Aufgabe, und als sie damit angefangen haben, den Fahrer aus dem Fahrzeug zu heben, haben sie sich alle gleichzeitig und synchron bewegt. So als würden sie einer nicht hörbaren Melodie folgen, die sie durch die Tanzschritte für diese Tango-Rettung führt.

Rettung bei der Feuerwehr

Kommen wir zurück zur Feuerwehr. Nach meinen Erfahrungen im Rahmen unserer Partnerschaft mit der FIA habe ich unsere Ansätze bei der Feuerwehr mit anderen Augen gesehen. Was wäre, wenn wir einige Schritte verbessern könnten, damit auch wir ‚diese Melodie für die Tango-Rettung hören können‘? 

Seit vielen Jahren wenden wir alle den Team-Ansatz an. Und ich würde auch sagen, dass es sich dabei immer noch einen zeitgemäßen und gültigen Prozess handelt, der uns bei Verkehrsunfällen durch den ganzen Rettungseinsatz führt. Wenn wir uns jedoch die Kommunikation und die verschiedenen Szenarien anschauen, die wir vorfinden, dann müssen wir uns ggf. auch überlegen, dass bestimmte Schritte nur optional sind, oder dass wir vielleicht eher: ein paar zusätzliche Schritte haben, um unsere eigenen Tanzschritte zu entwickeln.

Als Denkanstoß möchte ich Ihnen zwei Beispiele mitgeben, wenn Sie Ergänzungen zum Team-Ansatz besprechen wollen.

Beispiel 1: Kommunikation – SAMURAI LASER 

Unsere Freunde von der ATACC in Großbritannien haben sich vor ein paar Jahren das Akronym SAMURAI LASER ausgedacht. Es bedeutet:

 Methode

geschwindigkeit

 Weg

 Self (selbst) Urgent (dringend) (20 min) Linear (gerade)
 Assisted (unterstützt) Rapid (schnell) (<5 min)  Angled (ausgerichtet)
 Manual (manuell) Immediate (sofort) (<1 min) Side (Seite)
   Emergency (Notfall)
   Relocate (Wechsel)

Das Akronym hilft Ihnen dabei, die Rettungsmethode, Geschwindigkeit und den Weg zu bestimmen. Vor allen Dingen unterstützt es Sie jedoch bei der Kommunikation in Situationen mit verschiedenen Rettungsmannschaften. Wenn alle Beteiligten mit dieser Vorgehensweise vertraut sind, ist es viel leichter, die nächsten Schritte festzulegen und entsprechend vorbereitet zu sein. Ein Akronym wie SAMURAI LASER wäre eine schöne Ergänzung für den Team-Ansatz, um die Kommunikation zu vereinfachen.

ATACC - SAMURAI LASER

Beispiel 2: Stabilisierung – Abwägung von Optionen

Wenn der Team-Ansatz eingehalten wird, folgt nach der Sicherung des Unfallorts als nächster Schritt die Stabilisierung des Fahrzeugs. Schauen wir uns die Optionen doch mal im Detail an. Wenn wir beispielsweise an einen Unfallort kommen, wo ein Fahrer verletzt, aber nicht eingeklemmt ist, entscheidet der Mediziner, dass der Patient sich selbst befreien kann (Self, Urgent, Side).  Ist es in diesem Fall notwendig, dass wir das Fahrzeug stabilisieren?

Oder wenn die Tür blockiert ist, und wir die Tür entfernen wollen, damit der Patient selbst aussteigen kann (Assisted, Urgent, Side). Muss das Fahrzeug dann vollständig stabilisiert werden? Ist es notwendig, das Glas zu entfernen? Wie wir in unserem vorherigen Blog-Eintrag geschrieben haben, geht es beim Glasmanagement um mehr als das Einschlagen von Scheiben. 

Eine Stabilisierung sollte immer in Betracht gezogen werden, und eine Blockierung zur Verhinderung ungewollter Fahrzeugsbewegungen ist dabei immer mein erster Ansatz. Allerdings dauert es seine Zeit, bis ein Fahrzeug vollständig stabilisiert ist. Zeit, die wir uns sparen und für die Versorgung des Patienten nutzen können. Wenn Sie eine solide Grundlage brauchen, um Ihre hydraulischen Geräte während der Rettung einzusetzen, werden ganz klar auch Sicherungskeile und Blöcke benötigt. Aber auch hier können Sie sich fragen: Brauchen wir die komplette Stabilität oder ist eine teilweise Stabilisierung ausreichend, um unsere Aktion zu beenden und den Patienten schneller zu befreien?

Vom Rennsport zur Sicherheit im Straßenverkehr

Es hat mich wirklich fasziniert, den koordinierten Tanzschritten des Rettungsteams im Motorsport zuzuschauen, insbesondere wenn ein Patient aus dem offenen Cockpit eines Rennwagens befreit wird. Allerdings sind die Gründe keinesfalls angenehm. Insgesamt habe ich durch den Fokus auf eine medizinisch geführte Rettung und die fehlende Zeit, die fehlende Notwendigkeit und den fehlende Platz zur Fahrzeugstabilisierung gelernt, dass wir bei der Feuerwehr ebenfalls eine offene Diskussion darüber führen können, ob und wie sehr es erforderlich ist, dass wir ein Fahrzeug stabilisieren.

Dabei muss nicht eigens erwähnt werden, dass der Unfallort zunächst gesichert werden muss, wenn ein Fahrzeug auf der Seite oder dem Dach liegt und es wahrscheinlich ist, dass es sich bei Beginn unserer Rettung bewegt. Die Sicherheit unserer Rettungskräfte und des Patienten stehen selbstverständlich an oberster Stelle! Aber um meine eigene Inspiration aus den Erfahrungen, die ich mir beim Rettungswesen im Motorsport abgeschaut habe, weiterzugeben, nutze ich bei jedem Training mit meinen eigenen Feuerwehren und Rettungsdiensten oder auch bei Kundenschulungen auf der ganzen Welt die Gelegenheit, um über deren jeweilige Ansichten zu den Themen Stabilisierung, Zeitmanagement und Kommunikation zu sprechen.

Die beiden Beispiele, die ich genannt habe – das Akronym zur Verbesserung der Kommunikation am Einsatzort und zur Bewertung der Optionen für oder gegen eine vollständigen Stabilisierung – sind, wie bereits erwähnt, als Denkanstöße gedacht, mit denen ich Sie ermutigen will, Möglichkeiten zu entdecken, so dass Sie Ihre Leistung erneuern oder verbessern können. 
Dazu können Sie sich selbst folgende Fragen stellen: Welche Methode nutzen Sie zur Kommunikation der einzelnen Schritte im Rettungsplan? Verwenden Sie ein Akronym oder einen beliebigen Spruch, der allen Rettungskräften klar macht, worum es geht und was sie zu tun haben? Zieht Ihr Team verschiedene Optionen zur Stabilisierung von Fahrzeugen am Einsatzort in Betracht? Haben Sie die Schritte des Team-Ansatzes modifiziert oder Ihre eigenen Schritte ergänzt?

Ich freue darauf, Ihre Vorschläge in den Kommentaren zu lesen.
 

Ronald de Zanger
Holmatro Rescue Consultant

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